Mein Weg durch das Leben

Selbstverlezendes Verhalten (SVV)

 

Selbstverletzendes Verhalten (SVV)

In der Allgemeinheit wird dieses Thema mit einem

tabu-artigen Abstand betrachtet. Die bekanntesten Formen - Schneiden, Brennen, Ritzen - sind für davon nicht Betroffene nur sehr schwer nachzuvollziehen. Extreme Formen können bis zur Selbstverstümmelung und bis zum Selbstmord (Suizid) gehen. Typische Frage als Reaktion auf SVV: Wie kann sich ein Mensch nur so etwas selber antun? Wer unvorbereitet mit SVV in Berührung kommt, reagiert oft geschockt. Gängige Vorurteile pathologisieren (= weisen einen Krankheitswert zu) die Betroffenen: entweder sie müssten sich diese Unart endlich abgewöhnen, oder sie gehörten in die Psychiatrie (wo sie dann typischerweise eine Borderline-Diagnose angehängt bekommen). Wer sich als Betroffener dem Thema aus medizinischer Sicht nähert, wird nach einer langen Irrfahrt durch unser Gesundheitssystem einsehen müssen, dass es kein medizinisches Problem im eigentlichen Sinne ist. Auch mit reiner kognitiver Verhaltenstherapie wird man oft nicht besonders weit kommen, da bei SVV viel elementarere und urtümlichere Kräfte am Werk sind als auf einfache Weise durch den Verstand beeinflussbar oder dem Verhaltenstraining zugänglich sind.

 

Woher kommt SVV? Wozu dient es?

Ich behaupte hier ganz frech und provokativ, dass es wohl eins der wirksamsten Mittel ist, sein seelisches Gleichgewicht auch bei extremer Belastung / Störung zu halten oder wieder zu finden. Mit dieser These bin ich nicht vollkommen allein: so kann man ähnliche Thesen von renommierten Psychiatern (auch im Internet) finden, die in etwa besagen, dass SVV so ziemlich das wirksamste Anti-

Dissoziativum
ist, das bisher bekannt ist (mit einem Unterton des Bedauerns, dass die Pharma-Industrie bisher noch kein wirksames Mittel gegen Dissoziation gefunden hat). Im Klartext: die Selbstverletzung kann helfen, aus dissoziativen Trance-Zuständen wieder herauszufinden. Meine These ist lediglich eine Verallgemeinerung davon. Auch die von Betroffenen oftmals berichtete Erleichterung nach dem Schneiden oder Ritzen stützt diese These (Spannungsabbau = leichteres Gleichgewicht). Ob SVV immer und in allen Fällen mit dissoziativen Verhaltensmustern verknüpft ist, ist noch nicht geklärt; in einigen Fachbüchern zu SVV kommen die Begriffe Dissoziation und Trauma gar nicht vor oder spielen nur eine Nebenrolle. Alleine das oftmals reduzierte Schmerzempfinden deutet jedoch auf dissoziative Vorgänge hin. Auch bei der bewussten Inkaufnahme von körperlichen Schmerzen kann man von einer Dissoziation zwischen Körper-Gefühlen und anderen Gefühlen sprechen. Wer einmal verstanden hat, wie Dissoziation funktioniert und wie sie zu Stande kommt (van der Kolk u.a.), der wird kaum bestreiten können, dass das Handanlegen an sich selber ohne Dissoziation seines Selbst- und Körpergefühls gar nicht denkbar ist. Wie von psychoanalytischen Schulen schon lange bemerkt wurde, kann man SVV auch als (evtl. unbewusste) Wiederholung einer Traumatisierung sehen (sog. Wiederholungszwang, der eigentlich der Selbstheilung diesen soll, aber zur Retraumatisierung führt). Verknüpft man diese Sicht mit neueren Erkenntnissen der Trauma-Forschung, landet man wiederum bei der Dissoziation. Allerdings führt SVV aus psychoanalytischer Sicht eher zu einer Vertiefung des Traumas bei den (unbewussten) Versuchen, das Trauma mittels SVV aufzulösen. Scheinbar widerspricht SVV dem Selbsterhaltungstrieb - aber nur scheinbar. Denn wer Dissoziation als eines der wirksamsten Mittel zum Überleben in Extremsituationen kennt, dem muss klar werden, dass das Halten eines inneren Gleichgewichtes trotz dieser Extremsituation sowie die Eindämmung der Nebenwirkungen von Dissoziation letztendlich dem Gesamt-Überleben dient. Selbstverletzung bzw Selbstverstümmelung kommt auch im Tierreich vor: bei Gefahr werfen etwa Eidechsen ihren Schwanz ab, um sich selbst zu retten; es gibt Berichte von Raubtieren, die sich ihr eigenes Bein abgebissen haben, als sie damit in eine Falle geraten waren. Diese Beispiele zeigen recht drastisch den Gesamt-Überlebenswert einiger Formen von Selbstverletzung. Allerdings kann man die Frage stellen, wie einschneidend und störend die Extremsituationen bei einem Menschen gewesen sein müssen, damit SVV als Langfrist-Folge entstehen kann und zum weiteren Dauer-Überleben benötigt wird.

SVV-Betroffene sind nicht krank, sondern ganz im Gegenteil: sie tun in Wirklichkeit alles, um am Leben zu bleiben und zu überleben.

Einige SVV-Betroffene wissen oder ahnen nichts von Dissoziation und ihrer Ursache, dem

Trauma
. Dissoziation hat nur in sehr seltenen Fällen rein organische Ursachen; fast immer wird man davon ausgehen müssen, dass schwere Traumata stattgefunden haben, die nicht nur das innere Gleichgewicht stark gestört haben, sondern oftmals auch zur Abspaltung / Dissoziation der Erinnerung an das Trauma selbst geführt haben (dissoziative Amnesie). Daher kommt es, dass Betroffene manchmal gar nicht auf die Idee kommen, nach einem Trauma zu suchen. Bei einem Trauma werden nach neueren Erkenntnissen der Hirnforschung Nervenbahnen als Notreaktion getrennt und umverdrahtet, außerdem funktionieren die impliziten und expliziten Gedächtnisse anders als sonst. Daher ist es manchmal nicht möglich, das Trauma zu erinnern, oder es ist zumindest schwerer als bei einer normalen Erinnerung. Wer glaubt, dass traumatische Erlebnisse als Ursache auszuschließen seien, weil er keine Erinnerungen daran hat, kann ganz gewaltig auf dem Holzweg sein. In der Literatur über Traumata wird ausführlich erklärt, weshalb die Erinnerung sehr oft fehlt. Manche Dissoziations-Forscher sehen die (zumindest zeitweise) fehlende Erinnerung sogar als ein Hauptmerkmal von Dissoziation an!

Hier ist eine (eher konventionelle) Ansicht über SVV von Alexa, die mir beim Probelesen dieses Artikels folgenden Kommentar geschickt hat:

Es gibt verschiedene Arten von SVV, und in nicht so seltenen Fällen ist ein schwerwiegendes Trauma, wie z.B. der sexuelle Missbrauch im Kindesalter dabei die Ursache, möglich sind aber natürlich auch andere Hintergründe. Bei mir war SVV überwiegend nicht im Rahmen einer Dissoziation (jedenfalls nach meinem Wissen). Anfangs entdeckte ich das Mittel (Mich-Schneiden, Zigaretten-Ausdrücken an mir) als ein Hilfsmittel, um den seelischen Schmerz, der mir unerträglich war, auf den leichter zu ertragenden KÖRPERLICHEN Schmerz umzuleiten. ICH hatte dabei die voll erhaltene körperliche Schmerzempfindlichkeit. Später wandte ich das Mittel des SVV ganz bewusst an, um nicht zu Schlimmerem (weil irreversibel) - dem Suizid - zu kommen. Ich setzte dabei den SVV voll bewusst als ein Verhinderungsmittel ein. Dabei war der SVV eben gerade das GEGENTEIL einer echten Suizidalität. Bezeichnenderweise machte ich meine Art des SVV immer so, dass ich mich damit nicht beruflich schädigte (also nicht die Finger verletzte, da ich beruflich sehr schnell Schreibmaschine-Schreiben musste) Erst zu einem späteren Zeitpunkt, als ich es im Rahmen einer Therapie lernte, mich nach AUSSEN zu wehren, konnte ich auf das Mittel des SVV verzichten. Es hatte sich erübrigt und es fiel mir dann auch nicht mehr schwer, den SVV bleiben zu lassen, ich musste mir nicht mehr selbst weh tun.

Wo der SVV jedoch immer noch für mich problematisch bleibt, und eben wirklich einer intensiven sofortigen Trauma-Therapie bedarf (wenn man sie denn bekommt!!) ist, wenn er lebensgefährlich wird (ein immer tieferes Schneiden z.B., das Sucht-Charakter hat und wo der Betreffende nicht mehr merkt, wie lebensgefährlich er sich verletzt, quasi wie in einem Rauschzustand handelt) - dies ist aber eine andere Form, als ich sie praktiziert hatte und darin habe ich keine eigene Erfahrung. In diesen Fällen hat sich das HILFSmittel des SVV ins Gegenteil verkehrt und kann dann eben wirklich - sozusagen aus Versehen - lebensgefährlich werden. Erst in solch einem Fall wird SVV wirklich gefährlich. und bedarf einer gezielten Behandlung - wobei aber nicht übersehen werden sollte, dass der SVV, wie Thomas m.E. richtig sagt, im Ursprung ein Hilfsmittel der Seele ist, das nur eben außer Kontrolle geraten ist. Also ich denke schon, dass SVV wenigstens im weiteren Sinne mit Dissoziation der eigenen Körper-Gefühle bzw. vor allem mit Dissoziation zwischen Körper und kaum noch aushaltbaren Gefühlen zu tun hat. Noch vor zehn Jahren war das Phänomen der Dissoziation in breiten Therapeutenkreisen (mit Ausnahme universitärer / klinischer Forschungskreise) noch sehr wenig bekannt; die revolutionären Erkenntnisse der Trauma-Forschung

sind vergleichsweise sehr jung (und leider immer noch nicht flächendeckend bekannt). Ich denke, dass man in jedem Falle eine Psychotherapie machen sollte, egal ob einem der eigene SVV noch als unter Kontrolle vorkommt oder nicht. Ich möchte keine Unterscheidung / Bewertung von schlimmem und weniger schlimmem bzw. gefährlichem und weniger gefährlichem SVV treffen, da mir diese Abgrenzung nicht immer leicht vorkommt (und mir auch der Nutzen dieser Unterscheidung nicht klar ist). Aus meiner These vom SVV als Hilfsmittel zum Halten eines Gleichgewichtes (wozu auch das Verhindern von noch Schlimmerem zählt) folgt nicht, dass damit alles in Butter ist. Denn manche Gleichgewichte sind (wenigstens auf Dauer) sehr schädlich und sollten besser durch weniger schädliche andere Gleichgewichte ersetzt werden, die nicht mehr auf SVV beruhen

 

Was fällt alles unter SVV?

Selbstverletzendes Verhalten im weiteren Sinne ist nicht auf Schneiden, Brennen und Ritzen beschränkt. Der zu Grunde liegende psychische Mechanismus kann auch bei von außen kaum sichtbaren Selbstbeschädigungs-Mustern wirken. Es gibt weniger deutliche Formen wie Haarerupfen, Nägelkauen, Wundscheuern, und vieles andere. Mir ist erst vor kurzem klar geworden, dass ich einige SVV-Muster ausübe, obwohl ich kein psychiatrisch auffälliges Verhalten wie Schneiden zeige: ich drücke praktisch täglich und auf zwanghafte Art an meinen Pickeln herum (Dermatillomanie). Seit kurzem ist mir klar, dass ich das mache, um mein seelisches Gleichgewicht zu halten.

Achtung, der folgende Teil kann triggern - er ist deshalb in anderer Farbe und kann auch überlesen werden.

Ursprüglich hatte ich dieses Herumdrücken nicht selbst gemacht, sondern meine

Mutter
, und zwar auf eine - wie mir erst im Nachhinein klar geworden ist - auf eine bestialische Weise. Wenn sie an mir herumdrückte, tat es fast immer bestialisch weh. Wenn ich es ausnahmsweise erreichen konnte, dass es mein Vater machte, tat es seltsamerweise kaum weh. Dem Drücken ging immer eine eingehende Untersuchung voraus, bei der ich genauestens inspiziert wurde. Es hatte beinahe einen ritualartigen Charakter. Wenn ich mich dagegen wehren wollte, wurde ich nicht nur von meiner Mutter angeschrien, sondern manchmal auch mit dem Kopf gegen die Bad-Tür gedrückt, und sie drohte mir nicht nur mit Schlägen, sondern sie führte sie in einigen Fällen auch aus. Wenn ich schrie, stachelte das ihr Engagement für meine Gesundheit nur um so mehr an. Wenn ich versuchte, sie durch Argumente davon abzubringen, dann reagierte sie wütend, DAS MUSS HERAUS!! Dazu ein unbeschreiblich grimmiger Gesichtsausdruck und eine Handhaltung, als wollte sie alles an mir zerquetschen, nicht nur die Pickel. Angeblich hatte mein Onkel (ihr Bruder) sein ganzes Gesicht total vernarbt, weil er die Pickel nicht ausgedrückt hatte (wie ich heute weiß, steht in medizinischen Ratgebern das genaue Gegenteil: wenn man an den Entzündungen herumdrückt, kann es als Folge des Drückens zu Vernarbungen kommen!). Die medizinischen Zwangsbehandlungen begannen etwa im Alter von 13 und wiederholten sich phasenweise beinahe täglich, bis ich etwa 17 war. Es hörte erst auf, als ich körperlich stärker als meine Mutter wurde und ihr mit Schlägen drohte, falls sie weiter Hand an mich legen sollte. Erst das brachte die entscheidende Wende. Weshalb ich dann später damit begann, selbst an mir herumzudrücken, ist noch nicht ganz klar. Eine These wäre, dass ich das seinerzeit begonnen hatte, um meiner Mutter den Vorwand zu nehmen, an mir herumdrücken zu müssen, und so wenigstens noch ein Stück Kontrolle über mich zu behalten. Auch bei härteren Formen von SVV wie Schneiden berichten viele Betroffene davon, dass sie es deswegen machen, um wenigstens noch ein Stück Kontrolle über sich zu behalten. Da ich bei mir einen Fall entdeckt habe, wo das SVV-Verhalten ursprünglich als Täter-Verhalten begann, wäre es interessant zu erfahren, ob ähnliche Wurzeln auch bei anderen SVV-Betroffenen vorgekommen sind oder vermutet werden.

 

Was hilft gegen SVV?

Kurz und bündig:

Trauma-Therapie.

Das Ziel ist, ein neues und ganz anderes Gleichgewicht zu finden, zu dessen Erhaltung man SVV nicht mehr braucht.

Der erhobene Zeigefinger heilt einen jedenfalls nicht von SVV, sondern ist eher kontraproduktiv. Das innere Gleichgewicht schreit nämlich regelrecht danach, wieder hergestellt zu werden. Überlebende von sexuellem und anderem (z.B. physischem) Missbrauch oder Folter tragen außerdem bereits schon

so viele versteckte und manchmal

abgespaltene
Schuldgefühle
in sich, dass eine Verstärkung durch die Reaktion der Umwelt auf SVV nicht gerade heilsam wirkt.

Eine gute Trauma-Aufarbeitung in der

Therapie
sollte die Störung des inneren Gleichgewichtes durch die Trauma-Folgen so stark mindern, dass SVV gar nicht mehr zum Halten des Gleichgewichtes benötigt wird. Dann kann man leichter andere Methoden erlernen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Dieser Therapie-Prozess ist zwar nicht leicht und eher langfristig angelegt, dafür aber sehr lohnend.

 

Quelle: http://www.aufrecht.net/utu/svv.html

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